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Die Jüngeren müssen sich früh entfalten - aber die Gesellschaft verliert an Dynamik

Watt KONTEXT: Herr Professor Miegel, Anfang des Jahrzehnts haben sie Deutschland 30 magere Jahre prophezeit. Gilt das noch?

Meinhard Miegel: Ja, uneingeschränkt. Zahlreiche Faktoren, die den einzigartigen Wachstumsschub der zurückliegenden Jahrzehnte bewirkt haben, büßten an Wirksamkeit ein. Wir sind nicht mehr die junge, hungrige und risikobereite Bevölkerung von einst. Die Belastbarkeit dieser Gesellschaft hat abgenommen. Vor allem aber steht nicht mehr die Fülle an natürlichen Ressourcen zur Verfügung und die Umwelt schluckt nicht mehr bereitwillig die Schlacken unseres Wirtschaftens. Wir werden künftig alle Hände voll zu tun haben, um die offenen Rechnungen der Vergangenheit zu begleichen, und das zehrt natürlich an unserem materiellen Wohlstand.

Watt KONTEXT: Wo sehen Sie die dringendsten Probleme, die angepackt werden müssten?

Meinhard Miegel: In der Gesellschaft muss ein breiter Konsens darüber herbeigeführt werden, dass das bisherige Lebensmodell des immer Schneller, Weiter und Höher an seine Grenzen gestoßen ist und nunmehr auf einer deutlich anderen Grundlage weiter gewirtschaftet und gelebt werden muss. Wenn das einmal begriffen worden ist, kommt vieles andere von selbst. Menschen sind findige Wesen...

Watt KONTEXT: ... aber ist die Politik überhaupt noch in der Lage, die Aufgaben hinreichend zu lösen?

Meinhard Miegel: Nicht, wenn sie weiter agiert wie bisher. Zweierlei ist vordringlich: Sie muss eine Reihe von unangenehmen Entscheidungen treffen, auch wenn die Bevölkerung dagegen aufbegehrt, und sie muss sich noch stärker international verzahnen. Nationale Alleingänge bewirken immer weniger.

Watt KONTEXT: Müssen die Älteren in zwanzig Jahren bis ins Alter von 75 Jahren arbeiten?

Meinhard Miegel: Wohl nicht bis 75 Jahre. Aber wer gesund und fit ist, wird kaum vor dem 70. Lebensjahr erwarten können, vom Gemeinwesen alimentiert zu werden.

Watt KONTEXT: Wie stellen wir bei der alternden Gesellschaft die wichtige Dynamik der Jüngeren sicher?

Meinhard Miegel: Die Jüngeren müssen die notwendigen Freiräume erhalten, um sich möglichst früh entfalten zu können. Aber machen wir uns nichts vor: Die Gesellschaft wird auch dann an Dynamik verlieren. Denn nicht Dynamik, sondern Sicherheit steht in einer alternden Gesellschaft ganz oben auf der Werteskala...

Watt KONTEXT: ...und wie sehen Sie Teams aus Alt, gleich Erfahrung, und Jung, gleich Dynamik und Mut zum Neuen für unsere Zukunft?

Meinhard Miegel: Solche Teams wird es natürlich geben. Aber sie sind nichts Neues. Sie gibt es heute schon.

Watt KONTEXT: Bereits vor 30 Jahren warnten Sie vor einem Verteilungsstaat. Haben wir jetzt die Grenzen des Sozialstaats erreicht?

Meinhard Miegel: Auch der sozialste Staat kann nicht mehr verteilen als das Gemeinwesen erwirtschaftet. Wenn dessen Leistungskraft abnimmt - wovon ich ausgehe - wird auch der Sozialstaat schrumpfen. Das ist unvermeidlich.

Watt KONTEXT: In welchen - weiteren - Szenarien von einst sehen Sie sich bestätigt?

Meinhard Miegel: In der demographischen Entwicklung, der Entwicklung der öffentlichen Haushalte und des Arbeitsmarktes, beim Wohnungsbau und insbesondere bei den sozialen Sicherungssystemen.

Watt KONTEXT: Wohin steuert die Marktwirtschaft?

Meinhard Miegel: Das ist schwer zu sagen. Aber die Krise dieser Jahre dürfte verdeutlicht haben, dass das angloamerikanische Modell nicht zukunftstauglich ist. Die "soziale Marktwirtschaft" ist ihm überlegen, obwohl auch sie einer veränderten Wirklichkeit anzupassen ist.

Watt KONTEXT: Brauchen wir grundsätzlich eine neue Wirtschafts- und Sozialideologie?

Meinhard Miegel: Die derzeit dominierende Ideologie hat sich gerade ad absurdum geführt. Insofern brauchen wir schon eine neue. Aber der Widerstand hiergegen ist groß. Viele möchten gerne weitermachen wie bisher.

Watt KONTEXT: Drohen revolutionäre Umbrüche?

Meinhard Miegel: Das ist ebenfalls schwer vorhersagbar. Bei unkontrollierten, chaotischen Veränderungen kann eine Gesellschaft auch lethargisch werden und darauf hoffen, dass der Sturm vorüber zieht. Doch auszuschließen sind solche Umbrüche keineswegs.

Watt KONTEXT: Wird der Westen die Zukunft gewinnen?

Meinhard Miegel: Es wird schwer werden, aber er sollte es versuchen. Eines sollte jedoch schon jetzt klar sein: Er wird seine frühere wirtschaftlich-materielle Überlegenheit nicht wieder herstellen können. Wenn er die Zukunft gewinnt, dann wird dieser Gewinn geistig-kulturell sein...

Watt KONTEXT: ...aber Wohlstand macht doch müde?

Meinhard Miegel: ...nicht alle, aber viele. Das scheint mir menschlich verständlich. Die meisten haben ein recht gutes Gespür dafür, wann ihre Mägen und Truhen voll sind. Warum sich dann weiter plagen?

Watt KONTEXT: Das Wachstum in den westlichen Industriestaaten schwächt sich ab. Mit welchen Folgen?

Meinhard Miegel: Nun, wie ich bereits sagte: Das ganze bisherige Wirtschafts-, Gesellschafts- und Lebensmodell verliert seine Einsichtigkeit. Insbesondere wird eine neue Antwort auf die Sinnfrage gegeben werden müssen. Ständig steigender Konsum kann es jedenfalls nicht mehr sein.

Watt KONTEXT: Wer gehört zu den Gewinnern, wer zu den Verlierern?

Meinhard Miegel: Wie heute werden auch künftig die Hellen, Gebildeten, Flexiblen und Anpassungsfähigen erfolgreich sein. Hinzu kommen die Anbieter so genannter menschennaher kleiner Dienstleistungen. Die anderen haben das Nachsehen.

Watt KONTEXT: Kann die gegenwärtige Entwicklung für die Zukunft positiv wirken?

Meinhard Miegel: Sie kann dazu beitragen, dass die Menschen ihre materiellen Ansprüche wieder zur Deckung bringen mit den Ver- und Entsorgungskapazitäten der Erde und ihren eigenen Fähigkeiten. Da ist in der Vergangenheit einiges aus der Balance geraten.

Watt KONTEXT: Welche Werte werden uns in Zukunft leiten?

Meinhard Miegel: Dass wir neue Werte brauchen dürfte offenkundig sein. Ob wir sie aber auch haben und insbesondere leben werden, weiß ich nicht. Menschen halten mitunter zäh an ihren überkommenen Denk- und Verhaltensmustern fest, auch wenn sie dadurch ins Unglück stürzen.

Watt KONTEXT: Werden wir unsere Energie- und Klimaprobleme in den kommenden zwei Jahrzehnten lösen können?

Meinhard Miegel: Das halte ich für recht unwahrscheinlich. Zwar wird es beträchtliche technische Fortschritte geben. Aber sie werden kaum ausreichen, um die steil ansteigenden Ansprüche von immer mehr Menschen befriedigen zu könne. Ich fürchte sogar, dass die Probleme zunächst noch größer werden, ehe sie vielleicht gegen Mitte des Jahrhunderts - hoffentlich - wieder abnehmen.

Watt KONTEXT: Wie wird Deutschland den Schritt in die Wissensgesellschaft als ein Weg des wirtschaftlichen Erfolgs meistern können- insbesondere der Mittelstand?

Meinhard Miegel: Indem es von niemandem in Bezug auf Wissen und Können überboten wird. Allerdings ist dies zur Zeit mehr Wunsch als Wirklichkeit. Es bleibt viel zu tun.

Watt KONTEXT: Welche Branchen und welche Regionen bestimmen die Zukunft?

Meinhard Miegel: Das wirtschaftliche Gravitationsfeld wird sich nach Asien verlagern. Die Frage nach den Branchen ist schwieriger. Freilich wird Hightech mehr denn je eine Rolle spielen. Aber die demographischen Veränderungen werden auch einen stark steigenden Bedarf an Menschen bewirken, die vor allem eines können: mit Menschen umgehen.

Watt KONTEXT: Welche Fachkräfte werden für die Zukunft benötigt und was ist dafür zu tun?

Meinhard Miegel: Das kommt auf den Zeithorizont an. Welche Fachkräfte sie heute benötigen, wissen die Unternehmen genau. Ob für diese aber auch noch in 15 Jahren Bedarf besteht, kann niemand verlässlich vorhersagen. Da bleibt nur, sich auf Veränderungen einzustellen.

Watt KONTEXT: Hat Elitenförderung einen Stellenwert für unsere Zukunftsfähigkeit?

Meinhard Miegel: Keine Gesellschaft kommt ohne Eliten aus. Deshalb muss es eine Selbstverständlichkeit sein, sie nach Kräften zu fördern. Echte Eliten sind etwas sehr Rares.

Watt KONTEXT: Herr Professor Miegel, vielen Dank für die offenen Worte.

Unternehmermagazin Watt KONTEXT, 1/2010

Interview: Jürgen Jacobs und Otto Klatte